Geschichte der Wolgadeutschen
DER WOLGADEUTSCHE
Unabhängige Zeitung für die kulturelle und wirtschaftliche Förderung des Wolgadeutschtums
1922 Nr. 2

Die große Hungersnot an der Wolga.

Von Prediger H. J. Löbsack.

Moskau, Anfang Mai 1922.

Die russische Geschichte berichtet mehrfach von Hungerjahren. Eine ähnliche Not wie heute gab es in den fahren 1128 und 1230/31. Im Sommer 1232 kam, wie ein Geschichtsschreiber sagt, Hilfe: „Es kamen Deutsche von über’m Meer und brachten Lebensmittel und Mehl, stifteten viel Gutes und retteten die Stadt Nowgorod von gänzlichem Aussterben.“

1602/03 sollen in Moskau von der Polizei 127.000 Menschen beerdigt worden sein. Einige nehmen an, daß damals eine Million Menschen infolge Hungers gestorben ist. Bis zum siebzehnten Jahrhundert werden 43 große Hungersnöte erwähnt, im siebzehnten Jahrhundert allein 15 Hungersjahre. Ich erinnere mich noch gut daran, daß während der Teuerung 1882 in verschiedenen Kolonien des deutschen Wolgagebietes für die arme Bevölkerung Küchen eröffnet wurden, aus denen die Hungernden ihre Portion Suppe und Brot erhielten. Aber jene Hungersnot und die der Jahre 1891 und 1906 bleiben weit hinter dem zurück, was wir gegenwärtig sehen.

Infolge des Krieges und der Revolution konnten die Felder schon eine Reihe von Jahren hindurch nur ungenügend bestellt werden, so daß schon die teilweise Mißernte des Jahres 1920 zum großen Teil auf die Verringerung der Saatfläche und den Saatgutmangel zurückzuführen ist. Im Juni 1920 schlugen unsere Zeitungen Alarm und verwiesen auf die bevorstehende Trockenheit und die im Zusammenhang damit zu erwartende völlige Mißernte im ganzen Wolgagebiet von Simbirsk und Ufa bis nach Astrachan, Nord-Kaukasus und Dongebiet. Die Befürchtungen haben sich als gerechtfertigt erwiesen. Eine nie gekannte Hungersnot verwüstet die Überreste der Wirtschaft; Hundertausende verhungern.

In Moskau anfangend und in den Dörfern endigend, wurden unter Anleitung der Regierung besondere Komitees gebildet, um das Hilfswerk in geordnete Bahnen zu lenken. Dieser rechtzeitige Schritt hat Millionen von Menschen gerettet. Doch mit dem herannahenden Herbst und Winter 1921 hat die Notlage ein größeres Gebiet umfaßt. Der Kaukasus, das Dongebiet und die ganze südliche Ukraine, Jekaterinoslaw, die Krim und Cherson rufen um Hilfe. In Sibirien haben ganze Gebiete infolge von Trockenheit, andere infolge vielen Regens, wieder andere durch Heuschrecken gelitten. Auch von dort kommen Hilferufe. Aus Mangel an Brot greifen die Menschen zu verschiedenen Ersatznahrungsmitteln. Ich besitze eine Sendung solcher Ersatzmittel aus dem Gouvernement Simbirsk. Die Brotproben haben ein unbeschreibliches Aussehen und doch werden sie von denjenigen gegessen, die für jetzt noch ohne Unterstützung auskommen.

Seit langen Monaten wissen wir, daß im Hungergebiet Baumrinden, Wurzeln, Himbeerholz, Insekten, tote Fische, gefallene Pferde und Pferdeblut, Hunde, Katzen usw. gegessen werden. In einigen Orten müssen die Toten entweder unter Bewachung oder geheim beerdigt werden, da sie sonst von den Hungernden ausgegraben und gegessen werden. Abgeordnete des 9. Allrussischen Kongresses in Moskau berichten, daß Mütter ihre Kinder von sich stoßen, verkaufen und — zum Zwecke eigenen Genusses schlachten. Hunderte werden wahnsinnig von all diesen schlechten Speisen. Es wird eine Art galoppierender Magenkrankheit gemeldet, ferner eine Tollwutepidemie, Menschen beißen einander in Verzweiflung und sterben an Tollwut. Infolge der Massenerkrankungen reichen weder Krankenhäuser noch Ärzte aus; Typhus, Wassersucht und Blutvergiftung, die dann die Menschen hinwegmähen wie Gras, tun das Ihre. All das vor Augen, ergriff die Menschen vielerorts eine Panik; sie verließen alles und eilten unüberlegt zu Fuß, auf Wagen oder auf der Bahn davon. Wer Freunde oder Bekannte in der Welt hatte, eilte zu ihnen, um bei ihnen zu leben oder zu sterben. Viele davon sind unterwegs umgekommen. So liegen in Turkestan Unmengen von Hungerflüchtlingen, von denen täglich unzählige sterben. Dieselben Bilder trifft man an vielen Orten.

Die Umstände verlangten ein entschlossenes Eingreifen der Regierung, um dort, wo möglich und nötig, die Aussiedlung zu regeln. Ganze Familien und fast ganze Dörfer werden in andere Gouvernements überführt. Im Wolgagebiet selbst, sowie in den entlegensten Städten werden unausgesetzt Herbergen, Asyle, Krankenhäuser und Speisepunkte eröffnet. Außer der Regierung, die gut organisiert voranging und alle Mitbürger zur Mithilfe aufgerufen hat, wird von in- und ausländischen Organisationen und religiösen Gemeinschaften Großes geleistet.

Auf 20 photographischen Aufnahmen aus dem Gebiet sehen wir Entsetzliches. Wir sehen durch den Bürgerkrieg zerstörte Dörfer, auf deren Ruinen einsame Menschen sitzen, die hoffnungslos in die Zukunft schauen. Greise liegen auf den Straßen verhungert. Wagen ziehen daher, mit Zelttuch überzogen, von flüchtenden Familien besetzt, die bereit sind, ihr Heim, wenn es sein muß, auf immer zu verlassen. Eine Familie, bestehend aus neun Seelen, hält die letzte Ziege am Strick, mit der, wenn sie ausgegessen ist, die letzte Hoffnung für das Leben verschwunden ist. Zu Skeletten abgemagerte Kindergestalten, die auf den Straßen zerlumpt die weggeworfenen Speisereste auflesen. Einige Hundert Kinder warten auf ihr letztes Mittag in ihrem Heimatdorf, um dann eingeschifft und ausgesiedelt zu werden. Mehrere Kinderreichen sehen wir in der Totenhalle eines Krankenhauses. Andere im Krankenhause ausgezehrt und wieder andere aufgeschwollen vor Hunger. Den Schluß dieser Bilderserie machen mannhohe Haufen von Leichen, die in den Leichenhallen der Krankenhäuser aufgespeichert werden, bis die Reihe an sie kommt, in den Massengräbern verscharrt zu werden. Das letzte Bild ist ein Grab, das eine Anzahl solcher Toten aufgenommen hat. Das sind die Bilder aus unseren Kolonien im Jahre 1922.

Die deutsche Gebietsverwaltung, sowie die Bezirks-, Kreis- und Dorfverwaltungen tun, was sie können, um der Not zu steuern und das Volk zu retten, aber es ist nicht genug, es muß noch Hilfe von außen sein.

Das Hilfswerk ist organisiert. Jedem Menschenfreund ist die Möglichkeit zur Hilfe gegeben.

Aus Obigem ist zu ersehen, daß die Hilfe sofort gebracht werden muß. Es handelt sich nicht um die Erfüllung der Bitte eines Bettlers, sondern um die Errettung eines Volkes, das sich den biblischen Grundsatz zum Wahlspruch gemacht hat: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Es darf nicht Zeit versäumt werden über der Grübelei, was die Ursache des Elends ist, — wenn das Haus brennt, darf die Feuerwehr nicht nach dem Brandstifter suchen, es muß zuerst einmal das Feuer gelöscht werden. Deshalb rufen wir im Namen der Menschheit und der Religion: „Helft! Sendet Geld, Nahrungsmittel, Kleider, Ärzte und Medikamente. Leistet wirtschaftliche Hilfe! Vergeht nicht die Worte des weisen Salomo: „Wer den Armen gibt, der leihet dem Herrn“ und „Gib den siebenten und achten Teil hin, denn du weißt nicht, welches Unglück über dein Land kommen wird.“


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1922, Nr. 2, S. 3-4.