Geschichte der Wolgadeutschen
FREUNDSCHAFT
Tageszeitung der sowjetdeutschen Bevölkerung Kasachstans
24. Juli 1971 № 149 (1443)

Folklore nicht vergessen!

Mit dem Beitrag „Seminare... was weiter?“ hat Genosse E. Kontschak den Nagel auf den Kopf getroffen.

Ich persönlich suche z. B. schon lange nach einem kräftigen Lebenszeichen der Kommission für sowjetdeutsche Literatur. Bisher aber vergebens! Ich möchte zu dieser Frage eine Stelle aus der Wochenschrift NL vom 1. I. 71 zitieren: „Das Sekretariat des Schriftstellerverbandes der UdSSR erörterte die Ergebnisse des Seminars der sowjetdeutschen Dichter, das am 20.—26. November stattgefunden hat...

...Das Sekretariat beschloß, auch, das Ersuchen der sowjetdeutschen Schriftsteller um die Gründung eines literarischen Almanachs für die sowjetdeutsche Bevölkerung zu unterstützen.!

Das war also im November 1970. Jetzt sind wir aber schon glücklich im Juli 1971 gelandet, und nicht mal das Anzeichen eines künftigen Almanachs! Für die sämtliche sowjetdeutsche Bevölkerung ist die Herausgabe eines literarischen Almanachs eine lebenswichtige, herangereifte Frage. Die Leser von unseren drei Presseorganen interessieren sich dafür, wie weit diese Sache gediehen ist, und ob wir uns in absehbarer Zeit an der ersten Nummer des langersehnten Almanachs erfreuen werden? Warum schweigt sich die Kommission für sowjetdeutsche Literatur so gründlich aus? Hat sie uns denn gar nichts mitzuteilen?

Und wie steht es um die Arbeit mit dem literarischen Nachwuchs? Darüber, was der Verlag in Alma-Ata in dieser Sache getan hat. sind wir dank der „Freundschaft“ im Bilde, aber über die Taten der Kommission war diesbezüglich nichts gemeldet. Weiter: rückt die Geschichte der sowjetdeutschen Literatur vorwärts? Wer von den Kommissionsmitgliedern ist verantwortlich dafür, daß das Material zu den Biographien der Schriftsteller eingesammelt wird?

Dieses sind natürlich Fragen, die uns alle angehen, Schriftsteller wie Leser. Ein jeder ist verpflichtet, sein Scherflein dazu beizutragen. Aber es muß doch eine organisierende Hand dabei walten.

Als Aufgabe Nr. 1 betrachte ich, wie auch Genosse E. Kontschak, eine möglichst schnelle Zusammenkunft der Kommissionsmitglieder, um jedem ein bestimmtes Arbeitsfeld zukommen zu lassen, für welches er vor der Kommission und vor den Lesern Rechenschaft abzulegen hätte. Diese Rechenschaftsberichte sollten, meines Erachtens, wenigstens einmal im Jahre abgelegt werden und unbedingt in der sowjetdeutschen Presse erscheinen.

Die Frage über die Gründung eines Archivs für den Nachlaß der sowjetdeutschen Schriftsteller habe ich absichtlich bis zuletzt gelassen, da ich mit dieser Frage eine andere wichtige Angelegenheit verbinden möchte. Das ist die Sache der Folklore, denn nicht nur der Nachlaß der Schriftsteller, nein, auch das mündliche Sprachgut unseres Volkes soll und darf uns nicht verlorengehen!

Die Folklore, die Poesie unserer Kindheit und Jugend (vielen auch ein Trost im Alter), die Märchen, Rätsel, Abzählreime, Schnörkel, Volkslieder, Sprichwörter und Redensarten, Sagworte usw., nichts darf vergessen werden, nichts ins ewige Dunkel versinken!

Bekanntlich gibt es außer Spezialisten in der Folklore auch noch Folkloristen-Enthusiasten, deren Berufstätigkeit weit von der Folklore entfernt ist, die aber die Volkspoesie mit Hingebung und Fleiß sammeln. Da wären z. B. Anna Müller aus dem Altai, Peter Hunger aus dem Nowosibirsker Gebiet und andere zu nennen. Die Mühe und Arbeit dieser Menschen dürfen auch nicht in der Luft hängen bleiben. Gleich dem Nachlaß der verstorbenen Schriftsteller müssen diese Sammelwerke in das Archiv ausgenommen werden, wenn die Autoren bei Lebzeiten nicht anders über ihre Sammlungen verfügt hatten.

Das wären meine Vorschläge. Jetzt noch einige Worte an unsere Jugend.

„Nur mutig voran, scheuen Sie keine Mühe, um die reiche sowjetdeutsche Folklore zu sammeln und aufzuschreiben. Sie ist das Werk des Volkes und ist es wert, daß man Schweiß darum vergießt!“ Mit diesen Worten munterte mich am Anfänge meiner folkloristischen Arbeit der älteste Gelehrte der Saratower Universität Professor Geraklitow einst auf. Mit diesen Worten möchte auch ich mich heute an unsere Jugend wenden und ihr versichern: Glauben Sie mir, junge Freunde, die Folklore ist ein Quell, woraus das Volk und auch die Literaturschaffenden mit vollen Zügen schöpfen können. Wir brauchen sie! Enthusiasten der Folklore, meldet euch!

Klara OBERT


Freundschaft, 1971, Nr. 149, S. 3.